Physiker lesen, Physiker schreiben
Michael Gamper und Lukas Wolff: Physiker lesen, Physiker schreiben, Wallstein Verlag, Göttingen 2024, geb., 239 S., 28 Euro, ISBN 9783835355163
Michael Gamper und Lukas Wolff
Physikalische Themen haben durchaus Eingang in die Literatur gefunden, weit über die altbekannten Beispiele wie Brechts „Galilei“ und Dürrenmatts „Physiker“ hinaus. Dieser Sammelband widmet sich dagegen der Gegenrichtung, also der Frage, „inwiefern die Literatur und einzelne ihrer Zeugnisse stilbildend auf Exponenten der Physik gewirkt haben“, wie es die Herausgeber in ihrer Einleitung schreiben. Mit „stilbildend“ meinen sie, inwieweit die Rezeption von Literatur nicht nur die Schreibweise von Physikern, sondern auch ihr wissenschaftliches Denken und Arbeiten beeinflusst. Der nicht gendergerechte Titel ist angemessen, da es unter den Fallbeispielen keine Physikerinnen gibt.
Wen der unterschiedlich ausgeprägte sprach- und kulturwissenschaftliche Jargon der insgesamt acht Studien nicht abschreckt, kann vielfältige Einflüsse der Literatur auf die Physik entdecken, etwa die Verwendung literarischer Mottos durch Physiker, die nicht immer nur bildungsbürgerliches Distinktionsmerkmal sind. Ein Beispiel dafür ist Heinrich von Helmholtz. Der Germanist Benjamin Specht beleuchtet, wie sich Helmholtz‘ Lesart von Goethe im Laufe seines Lebens veränderte. Der Physiker zitiert den naturwissenschaftlich interessierten Goethe nicht nur gern, sondern diskutiert anhand dessen Werke auch das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst.
Aufschlussreich ist Lukas Wolffs Untersuchung von Arthur Eddingtons Buch „Space, Time and Gravitation“ von 1919, in dem dieser Einsteins Relativitätstheorie allgemeinverständlich darstellen wollte. Wolff, Doktorand der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, analysiert Eddingtons „popularisierendes Schreibverfahren“ in einer Art, die sich auch auf aktuelle populärwissenschaftliche Werke von Wissenschaftler:innen übertragen lässt: Beschwichtigen sie die Fach-Community oder belehren sie die Laien?
Magdalena und Martin Gronau nehmen Erwin Schrödingers „Kanonlektüren“ in den Blick. Ausgehend von einigen seiner handschriftlichen Notizen zeigen sie, wie Schrödingers umfassendes humanistisches Wissen sein wissenschaftliches Schreiben und Denken nachhaltig prägte.
Von der Germanistin Aura Heydenreich, die mit dem Physiker Klaus Mecke das Erlanger Forschungszentrum für Literatur und Naturwissenschaften (ELINAS) gegründet hat, das stammt der umfangreichste Beitrag. Dieser ist Teil ihrer umfangreichen Studie Literatur und Naturwissenschaft: Interformation und epistemische Transformation, die frei als E-Book verfügbar ist.
Heydenreich untersucht mit anspruchsvollem literatur- wie kulturwissenschaftlichen Instrumentarium und ihrem Konzept der „Interformation“ Carl Sagans Roman „Contact“ und Kip Thornes theoretisches Modell der durchquerbaren Raumzeittunnel. Sie arbeitet bei ihrer Analyse des spannenden Austauschs über Wurmlöcher zwischen dem Astronomen Sagan und dem theoretischen Physiker Thorne heraus, wie sich literarische und wissenschaftliche Sphären durchdringen. Dabei kommen auch die Verfilmung von „Contact“ und Thornes Filmprojekt Interstellar zur Sprache. Die an „Contact“ beteiligte Schriftstellerin Ann Druyan (Co-Autorin des früheren Filmtreatments) und die Produzentin beider Filme, Lynda Obst, wären durchaus eine Erwähnung wert gewesen.
Der Schriftsteller Thomas Lehr verarbeitet in seinen Werken intensiv naturwissenschaftliche und nicht zuletzt physikalische Themen, etwa im Roman „42“, in dem es um einen Zeitstillstand am CERN geht. Lehr setzt mit seinem Essay „Invasion der Materie oder Entführung der Formel?“ den Schlusspunkt. Er nennt die Literaturwissenschaft augenzwinkernd „die ewig nekrophile Witwe“ der Literatur. Sein Plädoyer für Physik in der Literatur weist den Weg aus der Theorie zurück in die schriftstellerische Praxis.
Alexander Pawlak