28.12.2020 • TeilchenphysikKernphysikBeschleuniger

Europa bleibt Herrin der Ringe und Quantenoptik erhellt fortan die starke Kraft

Jahresrückblick Teilchen-, Kern- und Beschleunigerphysik 2020.

Den an die­ser Stelle üb­li­cherweise zu­rückge­wandten Blick werfen wir in die­sem Dezember zu­nächst ein­mal in die Zu­kunft: Wie diese für die eu­ro­päi­sche Teil­chenphysik aus­se­hen soll, prä­sen­tierte nämlich Mitte des Jah­res die vom CERN Council in 2018 ein­ge­setzte Eu­ro­pean Strategy Group – nach ei­ner Vielzahl von Dis­kus­sio­nen und Be­ra­tun­gen in­ner­halb der wis­sen­schaft­li­chen Community, un­ter an­de­rem auch im letz­ten Ja­nuar in Bad Honnef.

Zur Higgs-Fabrik und wei­ter

Die lang­fris­tige euro­päi­sche Stra­te­gie der Teil­chen­phy­sik (Eu­ropean Stra­tegy for Par­ticle Phy­sics o­der ESPP) ver­folgt dem­nach be­schleuniger­tech­nisch zwei An­sätze. Wäh­rend ein Up­grade des Large Had­ron Colli­ders (LHC) zum High-Lumi­nosity LHC (HL-LHC) das volle Po­tential der vor rund zehn Jah­ren in Be­trieb ge­gan­genen „Weltma­schine“ aus­schöpfen wird, sollen zeit­gleich neue Be­schleu­niger­kon­zepte für die Post-LHC-Ära erar­beitet wer­den. Mit­telfris­tig soll der HL-LHC ab 2027 jähr­lich min­des­tens 15 Millio­nen Higgs-Boso­nen für die Expe­ri­mente der Teil­chen­physi­ker pro­duzie­ren, das Fünf­fache der im Jahr 2017 erziel­ten Menge.

Zeit­gleich soll die Suche nach neuen Hoch­tem­pera­tur­supra­lei­tern eine neue Gene­ration supra­leiten­der Mag­net­spu­len er­mögli­chen, und für die Wei­ter­ent­wick­lung inno­vati­ver Be­schleuni­gungskon­zepte, wie der Plasma-Wa­ke­field-Be­schleuni­gung oder den Energy Recovery Li­nacs, soll eine Road­map er­stellt wer­den. Dabei kann unter anderem auf den in diesem Jahr an DESYs Plasmabeschleuniger LUX erzielten Weltrekord im Dauersurfen der Elektronen oder die an CBETA neu erarbeiteten Möglichkeiten zur nach­haltigen Teil­chen­be­schleu­nigung sowie auf neue Ansätze für Beschleuniger mit Energierecycling an DESYs CFEL zurückgegriffen werden.

Am Ho­rizont scheint ein Had­ro­n-Colli­der mit ei­ner Schwerpunkts­e­nergie von min­des­tens 100 TeV auf, der Mitte dieses Jahr­hun­derts für Ex­peri­mente zur Verfü­gung ste­hen könnte und wie seine Vor­gän­ger ring­för­mig konzi­piert ist. Auch mit die­sem Fu­ture Cir­cular Colli­der (FCC) bleibt Eu­ropa in der Teil­chen­physik also Herrin der Ringe und setzt bei li­ne­a­ren Be­schleuniger­kon­zep­ten wie dem Inter­natio­nal Li­near Colli­der (ILC) auf eine ver­stärkte in­terna­tio­nale Zu­sam­mena­rbeit mit Ja­pan.

Das Universum im Labor rückt näher

Auch die nächsten entscheidenden Weichen für den großen FAIR-Ringbeschleuniger SIS100 wurden in 2020 gestellt: Das inter­nationale Be­schleu­niger­zentrum für die Forschung mit Anti­protonen und Ionen „FAIR – Facility for Anti­proton and Ion Research“ am GSI Helm­holtz­zentrum für Schwer­ionen­forschung in Darm­stadt bereitet den Zusam­men­bau seines Herz­stücks, dem supra­leitenden Ring­be­schleu­niger SIS100, vor. Dieser wird in Kom­bination mit den bereits bestehenden Be­schleu­nigerstrecken der GSI nach In­betrieb­nahme der kom­pletten Anlage vor­aus­sichtlich ab 2025 Ionen aller natür­lichen Elemente des Perioden­systems bis auf 99% der Licht­ge­schwin­digkeit be­schleu­nigen und Ex­peri­menten zur Er­zeu­gung und Er­for­schung kos­mische Ma­terie im Labor zur Ver­fügung stellen. Damit rückt unter an­derem ein besseres Ver­ständnis für die Pro­zesse, die der Ent­wicklung des Uni­ver­sums zu­grunde liegen, in greif­bare Nähe.

Ergebnisse trotz Shutdowns

Mit die­sen schö­nen Per­spek­tiven im Kopf wer­fen wir dann doch den Blick zu­rück auf ein durch­wach­senes Jahr, für das wohl nur das CERN einen länge­ren Shut­down im Vor­feld einge­plant hatte.

Durch ste­tige Ver­besse­run­gen an LHC, De­tekto­ren und Analy­se­tech­nik ließ sich die Präzi­sion der Mes­sun­gen so­weit er­höhen, dass so­wohl die Atlas- als auch die CMS-Gruppe den selte­nen Zerfall des Higgs-Bo­sons in zwei Myo­nen de­tek­tieren konnten. Durch Mes­sung der Zer­falls­rate des Higgs-Bo­sons in ver­schie­dene Teil­chen kann auf die Stärke ihrer Wech­sel­wir­kung mit dem Higgs-Feld ge­schlossen wer­den: Je hö­her die Zer­falls­rate in ein be­stimmtes Teil­chen, desto stär­ker die Wech­sel­wir­kung mit dem ent­spre­chen­den Feld. Die äu­ßerst leich­ten Myo­nen ent­ste­hen hierbei ext­rem sel­ten, dieser Zerfallskanal war zuvor nicht nach­weis­bar. Die auf der virtu­ellen 40. In­terna­tiona­len Kon­fe­renz für Hoch­ener­gie­physik ICHEP vorge­stell­ten Ergeb­nisse be­rück­sichti­gen den voll­stän­di­gen Da­ten­satz aus dem zwei­ten Lauf des LHC und bestä­tigen die Vor­hersa­gen des Stan­dard­mo­dells.

An den Grenzen gängiger Vorstellungen

Damit sich die Theorie auch am Exper­iment messen lassen kann, muss sie präzise Werte vor­geben. Ins­beson­dere im Fall des Vorher­sage­werts für das anomale mag­ne­tische Moment des Myons ist dies mit Schwierig­keiten ver­bunden, da sich dieser Wert aus ver­schie­denen Bestand­teilen zusammen­setzt, von denen einige schwer ab­zuschätzen sind.

Da­bei ist ge­rade in die­sem Fall Prä­zi­sion er­wünscht, denn bis­he­rige Messun­gen des ano­ma­len magne­ti­schen Mo­ments des My­ons las­sen auf Dis­kre­panzen zwi­schen dem ex­pe­ri­mentell er­mit­tel­ten Wert und sei­ner ak­tu­el­len the­ore­ti­schen Vor­her­sage im Rahmen des Stan­dardmodells der Teil­chenphysik schlie­ßen. Un­ter Be­rücksichti­gung un­ter­schied­li­cher the­ore­ti­scher An­sätze und un­ter zu Hil­fen­ahme ex­pe­ri­menteller Er­gebnisse ha­ben sich 130 Physi­ker weltweit – unter anderem aus dem Mainzer Prisma+ Cluster sowie der GSI Darmstadt – auf ei­nen sol­chen Vor­her­sa­ge­wert ver­ständigt und ge­ben für den das mag­ne­ti­sche Mo­ment des Myons be­stim­menden Fak­tor aµSM den Wert 116 591 810(43) × 10-11 an. Er­gebnisse ei­ner neuen Messung am Fer­mi­lab sol­len nun klä­ren, ob der ex­pe­ri­mentell er­mit­telte Wert tat­sächlich am Stan­dardmodell rüt­telt und das Myon die Tür zu ei­ner neuen Physik öff­net.

Hilfreich bei diesen kniffligen Bemü­hungen kann die neu vermessene Lebensdauer neutraler Pionen durch die PrimEx-Kollaboration sein. Die leichtesten Mesonen halten sich 8,34 (± 0,13) × 10−17 Sekunden, bevor sie in zwei Gamma­quanten zer­fallen. Dies liegt zwar im Rahmen des Standard­modells, das Expe­riment liefert über diese Bestä­tigung hinaus jedoch auch Erkennt­nisse zur genaueren Beurteilung des anomalen magne­tischen Moments des Myons. Derselbe Prozess, mit dem die neutralen Pionen zur Bestimmung ihrer Lebens­dauer erzeugt wurden – also die Streuung von Licht an Licht –, ist als virtu­eller Prozess beim anomalen magne­tischen Dipol­moment von Myonen von Bedeu­tung. Experi­mentelle und theore­tische Präzisions­unter­suchungen an neutralen Pionen erhöhen somit auch die Empfind­lichkeit der oben be­schrie­benen funda­mentalen Überprüfung des Standard­modells.

Auch wenn die Be­stä­ti­gung ei­ner gut aus­for­mu­lier­ten Theorie eine ge­wisse Ge­nugtu­ung her­vor­ruft, spannender wird es, wenn ihre Grenzen her­vor­schei­nen. Dies ist beim elektri­schen Di­pol­mo­ment des Neutrons nEDM der Fall. Die­ses könnte das Zünglein an der Waage zur Be­stä­ti­gung ei­ner Theorie zur Er­klä­rung des Un­gleichge­wichts zwi­schen Ma­te­rie und An­ti­ma­te­rie im Uni­ver­sum sein – vo­rausge­setzt, es wäre von Null ver­schieden und da­mit ein Zei­chen für die Ver­let­zung der CP-In­va­ri­anz, also der An­nahme, dass sich die physi­kali­schen Ge­setze beim Austausch von Teil­chen mit ih­ren An­ti­teil­chen nicht än­dern. Die Messung von nEDM ist nicht ganz ein­fach, muss doch das lo­kale Magnetfeld mit ho­hem Auf­wand sehr kon­stant ge­hal­ten werden. Dies ge­lang For­schern am Paul-Sche­rer-Institut (PSI), die über zwei Jahre eine hin­rei­chend große An­zahl von Neut­ro­nen ver­messen ha­ben, um festzu­stel­len, dass das elektri­sche Di­pol­mo­ment des Neutrons er­heblich klei­ner als bis­lang an­ge­no­mmen ist. Mit dem aktuellen Wert von dn = (0,0 ± 1,1stat ± 0,2sys) × 10−26 e·cm ist es nun un­wahrschein­li­cher ge­worden, dass das Neutron hilft, den Ma­te­rie-Überschuss im Uni­ver­sum zu er­klä­ren – auch wenn die Wissen­schaft­ler das noch nicht ganz aus­schlie­ßen wollen und für 2021 be­reits noch ge­nauere Messun­gen ge­plant ha­ben.

Eine wei­tere Theorie aus die­sem Be­reich wartet noch auf Un­ter­füt­te­rung mit ex­pe­ri­mentellen Da­ten: Ein in den 1970er Jah­ren vor­ge­schlage­nes leichtes schwach wechselwir­ken­des Teil­chen soll aus der Klemme hel­fen, wenn es da­rum geht, die von der Quantenchro­mo­dy­na­mik vor­her­ge­sagte, aber bis­her nicht be­obachtetet CP-Symme­trie­bre­chung in Vor­gän­gen mit starker Wechsel­wir­kung zu er­klä­ren. Dar­über hin­aus könnte die­ses Axion ge­nannte Bo­son auch ver­ant­wortlich für die Existenz dunkler Ma­te­rie im Uni­ver­sum sein. Axionen, de­ren the­ore­tisch vor­her­ge­sagte Masse weit un­ter der von Neutri­nos lie­gen würde, könnten über ihre im starken Magnetfeld mögli­che Um­wandlung in Photo­nen nachgewie­sen werden. Ei­nen sol­chen Axion-Photon-Um­wandler hat das MADMAX- (MAgnetized Disk and Mir­ror Axion eX­pe­ri­ment-) Pro­jekt er­ar­bei­tet. Bis ein Di­pol-Magnet mit etwa zehn Tesla Feldstärke und 1,35 Me­ter gro­ßer Öff­nung für Experimente zur Ver­fü­gung steht, soll der Auf­bau im Morpurgo-Magnet am CERN ge­tes­tet werden.

Alice und die at­traktiven Hy­per­o­nen

Ge­gen Jah­res­ende ver­öf­fentlichte die Alice-Kol­la­bo­ra­tion ihre neu­es­ten Messer­gebnisse zur Be­stim­mung von Pro­ton-Hy­pe­ron-Wechsel­wir­kun­gen, die erstmals die schwersten, drei s-Quarks ent­hal­tende Omega-Hy­per­o­nen ein­be­zo­gen.

Die Kor­re­lati­o­nen zwi­schen Pro­to­nen und den in ei­ner Pro­to­nen­kol­li­sion mit 13 TeV Schwer­punkts­ener­gie er­zeugten Hy­per­o­nen konnten mit bis­her un­er­­reichter Ge­nauig­keit un­ter­sucht werden. Da­bei stellte sich her­aus, dass im Falle der Wechsel­­wir­kung zwi­schen Pro­to­nen und Xi-- bzw. Omega--Hy­pe­ro­nen die be­o­bach­tete An­zie­hungskraft der Teil­chen al­lein durch die zwi­schen ihnen herrschen­den at­traktiven Coulombkräfte nicht er­klärt werden kann, also von ei­ner zu­sätzlich an­zie­henden Kompo­nente der zwi­schen den Teil­chen wir­kenden starken Kraft aus­zu­ge­hen ist. Diese Er­kenntnis lie­fert nicht nur Ein­bli­cke in die Ei­genschaf­ten der starken Wechsel­wir­kung, son­dern hat auch wichtige Konse­quenzen für die Physik von Neutro­nensternen, de­ren in­ne­rer Struktur noch un­be­kannt ist und von Hy­pe­ron-Nukleon- o­der Hy­pe­ron-Hy­pe­ron-Paaren be­stimmt sein könnte.

Der mittler­weile auf den neues­ten Stand der Technik ge­brachte Alice-De­tek­tor ver­spricht in Kombina­tion mit den im Long Shutdown 2 vor­ge­no­mme­nen Ver­bes­se­run­gen am LHC noch prä­zi­sere Vermessun­gen sol­cher Hy­pe­ron-Nukleon-Kor­re­lati­o­nen und er­möglicht dar­über hin­aus nun auch eine konti­nu­ier­li­che Auf­nahme der kom­plet­ten Kol­lisi­ons­ge­sche­hens. Die neuen Ausle­se­kammern, eine GEMs (Gas Electron Multi­plier) ge­nannten CERN-Er­fin­dung, werden zu­künftig da­für sor­gen, dass Alice bei der Un­ter­su­chung von Blei-Kol­lisi­o­nen nichts entgeht. Aus ei­ner Da­ten­flut von 3,4 Ter­a­byte pro Se­kunde wollen die Wissen­schaft­ler letztendlich Rückschlüsse auf die Ent­wicklung des frü­hen Uni­ver­sums aus ei­nem Quark-Gluon-Plasma zie­hen.

Mehr als nur eine Ver­bes­se­rung der Ta­bel­len­werke

Theore­ti­sche Physi­ker der Ruhr-Universität Bochum (RUB) ha­ben ih­ren Kol­le­gen am Ex­pe­ri­ment noch eine wei­tere Vor­lage ge­lie­fert: Das Neut­ron ist klei­ner als bis­her an­ge­no­m­men. Bis zu die­sem Zeitpunkt la­gen nur in­di­rekte Bestim­mungen des Neutro­nenla­dungs­radius vor. Eine Kombina­tion aus ge­nauer Be­rechnung des Deute­ron-Ra­dius und hochpräzi­sen spektrosko­pi­schen Messun­gen der Deute­ron-Pro­to­nen-Ra­di­us­dif­fe­renz ergab nun ei­nen Wert für den mittle­rer quadra­ti­scher La­dungs­radius, der mit −0,106 (+0,007;−0,005) fm2 etwa 1,7 Standardabwei­chungen von früheren Bestim­mungen ent­fernt ist. Das Er­gebnis er­öff­net ei­nen Weg zur ge­nauen Be­stimmung der Nukle­onenformfaktoren aus elasti­schen Elektron-Deute­ron-Streu­da­ten, wie sie am Mainzer Mikrot­ron und an­de­ren ex­pe­ri­mentellen Ein­richtun­gen ge­messen werden, und ge­stattet so­mit präzisere Hin­weise auf die in­nere Struktur der Nukleo­nen.

Auch die Masse des Deute­rons ist sig­nifi­kant klei­ner als ihr ta­bel­lier­ter Re­fe­renzwert. Hochprä­zise Messun­gen der Schwingungsfre­quenzen von D+- und 12C6+-Io­nen in ei­ner Penningfal­len-Ap­pa­ra­tur re­fe­ren­zie­ren die Masse des ver­messe­nen Deute­rons di­rekt ge­gen den ato­ma­ren Massen­standard 12C und wei­sen ei­nen Wert von 2,013553212535(17) ato­ma­ren Ein­hei­ten aus. Über die ebenfalls be­stimmte Masse des Was­ser­stoff-Mo­lek­üli­ons HD+ und de­ren Be­rechnung aus den Ein­zel­massen und der Bin­dungsener­gie wurde das Ver­fah­ren als ext­rem ge­nau vali­diert.

Quantenoptik zur Untersuchung von Kernkräften

In den 1960er Jahren lieferten Auf­nahmen von Teilchen­spuren in mit flüssigem Helium gefüll­ten Blasen­kam­mern erste Hin­weise auf eine ungewöhnlich lange Lebens­dauer von Pionen in dieser Um­gebung. Das zur Erklä­rung dieser Beson­derheit vor­geschla­gene pionische Helium konnte von Physikern des Max-Planck-Instituts für Quanten­optik in Garching erst­mals spektro­skopisch nach­gewiesen werden.

Abb.: Nach acht­jähriger Suche end­lich ge­fun­den: Pio­nisches He­lium,...
Abb.: Nach acht­jähriger Suche end­lich ge­fun­den: Pio­nisches He­lium, in dem ein Elek­tron in der Atom­hülle durch ein schwe­re­res Pion er­setzt ist. Das aus zwei Quarks (gelb und dun­kel­blau) be­ste­hende Pion schafft neue, mit La­ser­licht (rot) an­reg­bare Quan­ten­zu­stände im He­lium. (Bild: T. Naeser & D. Luck, MPQ)

So ein­gebunden ver­längert sich die Lebens­zeit des Pions um den Faktor Tausend auf – der Laser­spektro­skopie zu­gäng­liche – 26 Nano­se­kun­den, und das im Ver­gleich zum Elek­tron um das rund 260-fach schwerere Pion schafft vom elek­tronischen Helium abwei­chende Quan­ten­zustände. Dieser langlebige Zu­stand und ein solcher Quan­ten­zu­stand wurden in mit Pionen be­strahl­tem flüs­sigem Helium durch An­regung des Systems mit ge­eig­netem Laser­licht aufgespürt. Im Zuge dieses Vor­gangs fällt das Pion in den Kern, welcher unter Aus­sendung charakte­ristischer, zum Nachweis des exo­tischen Heliums detek­tierter Teil­chen zerfällt. Mit diesem Erfolg eröffnet sich die Mög­lich­keit, Pionen mit Metho­den der Quanten­optik zu unter­suchen und Detail­wissen über diese Aus­tausch­teilchen der starken Kraft zu er­ar­beiten.

Neue Erkenntnis und anspornendes Rätsel

Vom Baukasten leichter Atome zur Schmiede der schwersten Elemente: Die Spaltprozesse superschwerer Kerne untersuchte das FAIR-Experimentierprogramm am Beispiel von Mendelevium-244, einem bis dahin unbekanntem, aus 101 Protonen und 243 Neutronen bestehenden Kern. Für schwere Kerne mit einer solchen Kombination aus jeweils ungerader Protonen- und Neutronenzahl wird eine Behinderung von Spontanspaltprozessen vermutet, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Alpha- und Betazerfällen bedingt. Insbesondere Betazerfälle, die durch Umwandlung von einem Proton in ein Neutron zu Kernen mit jeweils gerader Protonen- und Neutronenzahl führen, erschweren die Beurteilung der beobachteten Zerfälle, da diese Tochterkerne zur Spontanspaltung neigen und die Zuordnung der Spaltprodukte zu den einzelnen Zerfallsprozessen nicht immer klar getroffen werden kann.

Abb.: Fokal­ebenen-Detektor des Tasca-Separators, in den das Men­delevium-244...
Abb.: Fokal­ebenen-Detektor des Tasca-Separators, in den das Men­delevium-244 implantiert und sein Zerfall registriert wurde. (Bild: A. Yakushev, GSI)

Im Fall von 244Md hilft nun die an Tasca gemachte Beobachtung, dass alle sieben im Experiment erzeugten Kerne über die Aussendung von Alphateilchen in Einsteinium-240 ihre Zerfallsreihen starteten. Für das neutronenärmste Md-Isotop wurde keine Kernumwandlung über einen Elektroneneinfang, eine in schweren Kernen mit hohem relativem Protonenüberschuss bevorzugt stattfindende Version des Betazerfalls, nachgewiesen. Über diese neue Erkenntnis hinaus geben acht im Experiment beobachtete kurzlebige Spaltereignisse unbekannten Ursprungs ein neues Rätsel auf, das zu Folgestudien mit doppelt ungeraden Kernen motiviert und einmal mehr aufzeigt, dass die Welt der superschweren Kerne noch so manche Überraschung bereit hält.

Von vol­len Schalen und run­den Ker­nen

Zum Ab­schluss noch ein­mal zu­rück zum CERN: Als Bei­spiel für aus­ge­zeichnete Nachhal­tigkeit be­lie­fert dort seit über fünfzig Jahre der Iso­to­pense­pa­ra­tor Isolde zu­ver­läs­sig Ex­pe­ri­mente mit ra­dio­ak­tiven Io­nenstrahlen. Da­von pro­fi­tie­ren seit 1980 das Collaps- (Colli­near La­ser Spectroscopy) Ex­pe­ri­ment, dem in die­sem Jahr ein Überra­schun­gscoup in Sa­chen Kerndefor­ma­tio­nen ge­lang, und bei­nahe ebenso lang das Io­nenfal­len-Massen­spektro­me­ter Isoltrap, das auch in 2020 Prä­zisi­ons­da­ten zur Überprüfung von Mo­del­lan­sät­zen für Kernstruk­tur­rechnungen lie­ferte.

Collaps lie­ferte mit der Ver­messung der Kerngestalt von ma­gi­schen Zinn-Iso­to­pen ei­nen neuen An­satz­punkt für ein tie­fe­res Ver­ständnis der Kern­kräfte. Mit der ma­gi­schen Kernla­dungszahl 50 ver­fügt das Ele­ment über eine voll­be­setzte Pro­to­nen-Schale im quantenmechani­schen Kern­modell und über zehn stabile und etli­che in­sta­bile Iso­tope. Überra­schen­derweise ergab die Be­stimmung des Quadru­pol­mo­ments Q der Zinn-Iso­tope als Maß für die Ab­wei­chung von der Ku­gel­ge­stalt ei­nen pa­ra­bel­för­mi­gen Ver­lauf die­ser Größe ent­lang der Iso­to­penkette. Ver­gleichbare Messun­gen an Isotopen des Cadmiums, das mit 48 Pro­to­nen keine ab­ge­schlos­sene Schale auf­weist, be­stä­tig­ten vor ei­ni­gen Jah­ren den theo­re­tisch vor­her­ge­sag­ten li­nearen Ver­lauf von Q ent­lang der Iso­to­penkette. Die neuen be­o­bachte­ten Re­gel­mä­ßig­kei­ten ge­ben An­lass für eine Weiter­ent­wicklung der Theo­rie.

An Isoltrap konnte erstmals die Masse des exo­ti­schen Cadmi­um­iso­tops Cd-132 mit Hilfe ei­nes Multire­fle­xions-Flugzeit-Massen­spektrome­ters be­stimmt werden. Aus den Kernmas­sen las­sen sich die Bin­dungsener­gien be­rechnen, die wie­derum ein Maß für die Kern­stabili­tät sind. Cadmium feh­len zwei Pro­to­nen für den bei 50 er­reichten Schalenab­schluss. Mit 84 Neutro­nen ver­fügt das schwerste Cd-Iso­top über zwei Neutro­nen mehr als für ei­nen vol­len Schalenab­schluss er­for­der­lich sind. Die Messung ver­voll­ständigte die Charak­teri­sie­run­gen zum Neutro­nenscha­lenab­schluss und zeigte, dass die­ser beim Cad­mium deutlich schwä­cher aus­fällt als bei dem mit 50 Pro­to­nen und 82 Neutro­nen doppelt ma­gi­schen Zinn-132. Die­ses Er­gebnis be­stä­tigt Mo­dellvor­stel­lun­gen, mit de­nen sich die be­o­bachtete ge­gensei­ti­gen Ver­stärkung der Sta­bili­tät durch ab­ge­schlos­sen Pro­to­nen- und Neutro­nenschalen be­rechnen las­sen.

Mit die­sem Zu­ge­winn an Wissen über die Ei­genschaf­ten von Ele­mentarteil­chen und Ker­nen und viel­ver­sprechenden ex­pe­ri­mentellen An­sät­zen, wie ihnen wei­tere Ge­heimnisse ent­lockt werden können, starten wir gut aus­ge­rüs­tet in das dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhun­derts.

Lisa Kleinen

Hinweis: Der Rückblick wurde am 4.1.2021 um die Abschnitte „Das Universum im Labor rückt näher“ sowie „Neue Erkenntnis und anspornendes Rätsel“ ergänzt.

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