Der Suprafestkörper
Zugleich fest und supraflüssig: Diese scheinbar paradoxe Kombination von Eigenschaften lässt sich in dipolaren Quantengasen realisieren.
Unsere physikalische Intuition lässt uns die Welt um uns herum hauptsächlich in drei Materiezustände einteilen: gasförmig, flüssig und fest. In unseren Augen weisen diese drei Makroklassen so markante Unterschiede auf, dass wir sie kaum miteinander verwechseln. Ein Festkörper hat eine stabile Eigenform, eine Flüssigkeit fließt und nimmt die Form ihres Behälters an, ein Gas wiederum dehnt sich aus und neigt dazu, den gesamten ihm zur Verfügung stehenden Raum einzunehmen.
Die Realisierung von hochgradig kontrollierten Quantensystemen ermöglicht heutzutage die umfassende Erforschung neuer und exotischer Materiezustände. Die Parameter solcher Systeme können derartig fein abgestimmt werden, dass einerseits Phasen der Materie zugänglich werden, die bisher nur theoretisch vorhergesagt wurden. Andererseits können „künstliche“ Materiezustände erzeugt werden, also neue Phasen mit einzigartigen Eigenschaften, die kein direktes Gegenstück in der Natur haben.
Unter den verschiedenen möglichen, hochkontrollierten Quantensystemen nehmen Gase aus ultrakalten neutralen Atomen, oft als Quantengase bezeichnet, eine herausragende Stellung ein. Dies liegt einerseits an den flexiblen Manipulationsmöglichkeiten, die auf den Eigenschaften der Atome basieren, aus denen die Quantengase bestehen. Mit Laserlicht lassen sich unterschiedlichste Arten von Einschlüssen erzeugen, zum Beispiel nahezu eindimensionale Röhren oder dreidimensionale Gitterstrukturen.
Bei vielen Quantengasen kann man auch die Wechselwirkungen zwischen den Atomen durch Magnetfelder präzise verändern – von anziehend über abstoßend bis hin zum völligen Abschalten der Wechselwirkung. Andererseits bieten Quantengase einen sehr einfachen und direkten Zugang, um Systemparameter wie die räumliche Dichte oder die Impulsverteilung zu messen. Mit ständig verbesserten Detektionsmethoden lassen sich inzwischen sogar die Positionen einzelner Atome in künstlichen Kristallstrukturen bestimmen.
Suprafestigkeit ist eine paradoxe Phase der Quantenmaterie, in der kristalline und suprafluide Ordnungen nebeneinander existieren. Sie ist ein weiteres faszinierendes Beispiel für die Macht der Quantenmechanik, bei der sich ein Zustand, also eine Ansammlung von Teilchen, gleichzeitig in einer Überlagerung von gegensätzlichen Eigenschaften befindet. Wie Schrödingers Katze, die zugleich lebendig und tot ist, ist ein Suprafestkörper gleichzeitig starr und flüssig und fordert damit unsere Vorstellungskraft heraus.
„Can a solid be superfluid?” Das ist die Frage, die sich die Gründerväter der Suprafestigkeit stellten. Allerdings schien es anfangs eher um ein erkenntnistheoretisches Problem zu gehen, nicht um eine Frage zu den Grundlagen der Quantenmechanik. Wie so oft bei Fragestellungen, die intellektuelle Abstraktion erfordern, begleitete jedoch eine Zugangsdebatte die Suche nach der Antwort. Kann es suprafeste Zustände überhaupt geben? Und kann dieser Zustand in einem Festkörper beobachtet werden? Die erste Frage hat unter den Theoretikern des 20. Jahrhunderts eine große Kontroverse ausgelöst. Auf der einen Seite waren Oliver Penrose, Bruder von Roger Penrose, und Lars Onsager (Nobelpreis für Chemie 1968) die ersten, die Mitte der 1950er Jahre argumentierten, dass in Kristallen Teilchen lokalisiert sind und diese kristalline starre Struktur mit der Idee eines suprafluiden Flusses unvereinbar sei.
Bald darauf stellten Chen-Ning Yang (Nobelpreis für Physik 1957), Eugene Paul Gross und andere prominente Theoretiker die Hypothese auf, dass die Korrelation zwischen Teilchen, die sich über große Entfernungen verteilen, quantenmechanisch ein hohes Maß an atomarer Delokalisierung bewirken könnte. Genau das, was für Suprafestigkeit gebraucht wird! Nichtsdestotrotz, die Annahme, dass die Quantennatur von Kristallen Suprafestigkeit ermöglichen würde, war und ist nicht unumstritten, wodurch jahrzehntelange Forschung inspiriert wurde.
Ein Höhepunkt dieser Forschung sind die Ergebnisse, die Francesca Ferlaino und Manfred J. Mark vom Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck in der aktuellen „Physik in unserer Zeit“ vorstellen. Sie konnten mit ihrem Team den vor über fünfzig Jahren vorhergesagten paradoxen Materiezustand eines Suprafestkörpers im Labor erzeugen. Dieser besitzt zugleich eine feste und eine suprafluide Phase.
Der unten stehende Link führt direkt zum Artikel der beiden, der tiefer in diese scheinbar paradoxe Materie einführt.
Dirk Eidemüller (Redaktion)