Den menschlichen Gang aufschlüsseln
Neues interdisziplinäres Labor an der TU Chemnitz erforscht die menschliche Motorik.
Die Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften und die Fakultät für Naturwissenschaften der Technischen Universität Chemnitz haben ein interaktives Labor zur Echtzeit-Ganganalyse eingeworben und nun in Betrieb genommen. Das „Gait Real-time Analysis Interactive Lab“ (kurz: GRAIL) wird durch den Freistaat Sachsen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit etwa 650.000 Euro gefördert. „Dieses Großgerät ist deutschlandweit nahezu einzigartig“, sagt Claudia Voelcker-Rehage, Inhaberin der Professur Sportpsychologie mit Schwerpunkt in Prävention und Rehabilitation. Lediglich an der Universität Rostock gäbe es ein vergleichbares System.
Die Forscher an der TU Chemnitz profitieren insbesondere von der Möglichkeit, unter realitätsnahen Gang- und Umgebungsbedingungen mit gleichzeitiger experimenteller Kontrolle über alle beim Gehen und Laufen relevanten Variablen ausüben zu können – und das in Echtzeit. Hierbei liegen die Forschungsschwerpunkte der beteiligten Professuren in unterschiedlichen Bereichen der Motorik, Sensorik und Kognition mit einem spezifischen Fokus auf gesundes Altern und Patientengruppen. Das GRAIL wird aktuell von sechs Professuren der TU Chemnitz genutzt. Neben der Professur von Voelcker-Rehage sind dies die Professuren Bewegungswissenschaft (Thomas Milani), Forschungsmethoden und Analyseverfahren in der Biomechanik (Christian Maiwald), Angewandte Gerontopsychologie (Georg Jahn), Struktur und Funktion kognitiver Systeme (Alexandra Bendixen) sowie Physik kognitiver Prozesse (Wolfgang Einhäuser-Treyer). Neun ausgebildete und zertifizierte Operatoren haben bereits mit der ersten Testphase des GRAIL-Systems begonnen.
GRAIL bietet eine hochauflösende, interaktive Laborumgebung für Echtzeit-Ganzkörper-Bewegungsanalysen in verschiedenen virtuellen Realitäten (VR) und ermöglicht den Arbeitsgruppen, ihre Untersuchungen unter realitätsnahen und dennoch sicheren und standardisierten Bedingungen durchzuführen und gleichzeitig die Anzahl an Variablen sowie deren Messgenauigkeit zu erhöhen. „So können im Labor künftig die Rolle des gesunden Alterns sowie die Effekte diverser Krankheitsbilder weitaus besser als bisher über Fächergrenzen hinweg untersucht werden“, erklärt Voelcker-Rehage. Hierbei werden die Versuchspersonen auf einem hydraulisch und um zwei Achsen bewegbaren Laufband in virtuelle Welten versetzt, in denen sie unterschiedliche Bewegungsaufgaben wie Gehen und Laufen oder verschiedene Balanceaufgaben bis hin zu Mehrfachaufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden ausführen.
Ein 3D-Bewegungsanalysesystem und unter der Lauffläche des Laufbands befindliche Kraftsensoren ermöglichen es, alle Bewegungen der Versuchspersonen präzise und in Echtzeit aufzuzeichnen und diese mit dreidimensionalen biomechanischen Mensch-Modellen vor dem Hintergrund aufgabenspezifischer Veränderungen der Bewegung zu analysieren. Die VR kombiniert eine auf eine visuelle 240-Grad-Projektionsfläche projizierte VR mit einem Soundsystem – und sie wird spürbar, indem das Laufband beispielsweise anfängt zu schwanken, wenn die Versuchsperson über eine projizierte Hängebrücke läuft. Und auch Hügel und Kurven eines virtuellen Waldweges können realitätsgetreu simuliert werden. Die Laufbandgeschwindigkeit passt sich an die Ganggeschwindigkeit der Versuchsperson automatisch an und alle Aufgaben können für die individuellen Fähigkeiten der Versuchspersonen justiert werden.
Wozu eignet sich das neue Ganganalyse-Labor noch? „Untersuchungen von Fehlbelastungen beim Gehen und Laufen können beispielsweise zur Verletzungsprophylaxe bei älteren Menschen beitragen“, sagt Thomas Milani, Leiter der Professur Bewegungswissenschaft. So können der Gang gezielt „gestört“ oder das rechte und linke Bein jeweils unterschiedlich angesteuert werden, was insbesondere zur Ganganalyse, Gangschulung und Sturzprophylaxe sehr relevant sei – beispielsweise nach einer Prothesen-Versorgung oder im Rehabilitationsprozess. „Menschen, die etwa an Gleichgewichts- und Bewegungsstörungen leiden, oder Menschen, die durch eine Beinprothese in ihren Bewegungen eingeschränkt sind, können auch in unsere Studien einbezogen werden“, fügt Voelcker-Rehage hinzu. Damit die Probanden während der Ganganalysen nicht stürzen, werden sie mit einem Gurt gesichert.
Von großem Vorteil ist, dass das GRAIL mit externen Messinstrumenten kombinierbar ist. „Trotz Eigenbewegung der Probanden können psychophysiologische Messmethoden, wie Eye-Tracking, Nahinfrarotspektroskopie, Elektroenzephalographie und Elektromyographie, eingesetzt und damit unter sehr realitätsnahen Bedingungen Daten gewonnen werden“, fügt Wolfgang Einhäuser-Treyer, Inhaber der Professur Physik kognitiver Prozesse, hinzu. Die Messung von Bewegungen im dreidimensionalen Raum ist für den gesamten Körper möglich, so dass auch interaktive Aufgaben in frei programmierbaren virtuellen Umgebungen realisiert werden können, die Armbewegungen wie beispielsweise Zeigegesten während des Gehens einschließen. Laut Georg Jahn erlaubt dies Studien zu visueller Aufmerksamkeit in bewegten Szenen und zu räumlichem Gedächtnis bei eigener Fortbewegung durch den Raum.
TU Chemnitz / DE