Soft Matter

Lehrpläne im Physikstudium entwickeln sich mit der Zeit. Als ich in den 1980er-Jahren Physikstudent an der Universität Bonn war, bestanden die Kurse im 3. und 4. Jahr (unter anderem) aus Kernphysik, Hoch­energiephysik sowie Quantenelektro­dynamik. Die großen Fragen in diesen Bereichen wurden längst gelöst, und die moderne Physik steht vor neuen Herausforderungen, auch um den Anforderungen der heutigen Gesellschaft gerecht zu werden: Klima, Umwelt, Energiewende, Gesundheit, Hightech und Agrar- sowie Nahrungsmitteltechnologien. Weiche Materie („soft matter“) und Physik von (komplexen) Fluiden sowie die in diesen Bereichen angewandten Konzepte haben große Bedeutung für diese heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen. Daher sollten diese beiden Themenkomplexe in keinem modernen Physik-Curriculum fehlen. Tatsächlich wurde inzwischen, vier Jahrzehnte nachdem der französische Nobelpreisträger P.-G. de Gennes den Begriff der Physik der weichen Materie (Soft Matter) geprägt hat, ein entsprechender Kurs in den meisten Curricula prominent eingeführt.

Doch wie unterrichtet man einen Grund- oder Fortgeschrittenenkurs in Soft Matter? Das Buch von Wim van Saarloos, Vincenzo Vitelli und Zorana Zeravcic ist die ultimative Antwort für alle, die vor dieser Frage stehen: Genau wie die Weiche Materie selbst ist es faszinierend, reichhaltig, vielschichtig, bietet verschiedene Konzepte, regt zum Nachdenken an und lädt dazu ein, über den Tellerrand hinauszudenken. Die vielschichtige Struktur des Buches macht es sowohl für Erstsemester als auch für erfahrene Forschende interessant und lesenswert.

Das Buch beginnt damit, die Herausforderungen und den Reiz der Weiche-Materie-Physik hervorzuheben, vor allem die Relevanz des Gebiets zur Lösung der großen Fragen unserer Gesellschaft. Teil I legt die Grundlagen in diesem Bereich: Fluid­dynamik, Elas­tizität und moderne Statistische Physik. Teil II befasst sich mit den Phasen der weichen Materie: Kolloi­de, Polymere, Flüssigkristalle, Grenz­flächen, Oberflächen und Membranen. Die Teile III und IV decken fortgeschrittene Themen ab, nämlich die Musterbildung im Ungleichgewicht, aktive Materie und das sehr neue Thema des „material design“.

Das Buch ist wunderbar illustriert und grafisch gestaltet. Es enthält eine Vielzahl hervorragender und zum Nachdenken anregender Übungsaufgaben und ermutigt den Leser zur weiteren Lektüre der Fachliteratur. Besonders hervorzuheben ist die spektakuläre Webseite zum Buch, die illustrative Filme sowie Zusatzmaterial bietet.1) So sollten Lehrbücher des 21. Jahrhunderts gestaltet sein!

Nicht nur das Thema Soft Matter Physics sollte also in keinem modernen Physik-Curriculum fehlen, sondern auch nicht das Buch von van Saarloos, Vitelli und Zeravcic.

Prof. Dr. Detlef Lohse, University of Twente