Tiefer Blick in den Patienten
Operationsmikroskop schaut mit Kurzwellen-Infrarot durch Blut, Bakterienfilme und Weichgewebe.
Mittelohrentzündungen werden häufig durch Cholesteatome ausgelöst, einer chronischen Knocheneiterung. Damit Cholesteatome und andere bakterielle Belastungen besser erkannt und sicher beseitigt werden können, arbeitet das neue Kooperationsprojekt „BetterView“ an einem speziellen Operationsmikroskop: Das SWIR-Mikroskopsystem nutzt kurzwelliges Infrarotlicht. Es soll Blut, bakterielle Biofilme, Knorpel und Weichgewebe durchleuchten, räumlich darstellen und voneinander unterscheidbar machen. In dem Projekt kooperieren sieben Partnereinrichtungen, darunter die Universität Bielefeld und das Klinikum Bielefeld, eine der Trägerkliniken des Universitätsklinikums OWL. Koordiniert wird es vom Medizintechnik-Unternehmen Munich Surgical Imaging. Für das Projekt werden insgesamt 4,1 Millionen Euro aufgewendet. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert die neue Forschung.
Minimalinvasive Chirurgie arbeitet mit kleinsten Hautschnitten – bei den Operationen wird das Gewebe also kaum verletzt. Optische Mikroskope helfen, die zu operierende Stelle zu untersuchen. Sie beleuchten das Operationsfeld und übertragen die Ansicht in hoher Auflösung auf einen Bildschirm. Bisher wird in der chirurgischen Mikroskopie allerdings fast ausschließlich mit Licht aus dem sichtbaren Spektralbereich gearbeitet. Die genutzten Mikroskope kommen an ihre Grenze, wenn die Oberfläche durch Einblutungen verdeckt oder bakterielle Besiedlung kontaminiert ist. Damit Ärzte in solchen Situationen freie Sicht haben, entwickelt das neue Projekt „BetterView“ das neue SWIR-Operationsmikroskop. SWIR steht für Kurzwellen-Infrarot (Short Wave Infra Red).
„Eine neue Generation von Bildsensoren macht es nun möglich, Operationsmikroskope mit der Funktion auszustatten, Aufnahmen im kurzwelligen Infrarot-Lichtspektrum in Echtzeit zu verarbeiten und darzustellen“, sagt Thomas Huser von der Fakultät für Physik der Universität Bielefeld. Huser ist Spezialist für biomedizinische Photonik, die sich mit der Entwicklung neuartiger Mikroskopieverfahren befasst. Gemeinsam mit seinem Team konstruiert und nutzt er hochauflösende Mikroskope und entwickelt die Software für die Bildverarbeitung.
In Mikroskopen mit Sensoren wie dem SWIR-Operationsmikroskop muss das aufgenommene Bildsignal zuerst automatisiert analysiert und verarbeitet werden. Damit das Operationsmikroskop die Kurzwellen-Infrarot-Signale darstellen kann, entwickeln Huser und sein Team eine eigene Software, die Licht außerhalb des Kurzwellen-Infrarot herausfiltert und eine dreidimensionale Ansicht der Aufnahme berechnet. „Außerdem muss die Software farbliche Kontraste erzeugen. Solche farblichen Markierungen machen zum Beispiel Nerven und Weichgewebe leicht voneinander unterscheidbar“, erklärt Huser. Die Software muss das Videobild in Echtzeit ausspielen, damit die Chirurgen im Operationssaal präzise arbeiten können und ohne Verzögerung sehen, was ihr Eingriff im Operationsfeld bewirkt.
Um das SWIR-Operationsmikroskop in der Praxis zu erproben, soll es im Projekt zunächst in der Behandlung von Cholesteatomen – einer chronisch eitrigen Entzündung des Mittelohrs – eingesetzt werden. Getestet wird das Mikroskop in der Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie des Klinikums Bielefeld. An der Klinik werden bundesweit die meisten Cholesteatom-Operationen durchgeführt – 650 Eingriffe jährlich.
„Bleibt ein Cholesteatom unbehandelt, kann es zu ernsthaften Schäden führen“, sagt Holger Sudhoff, Direktor der Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie des Klinikums Bielefeld und Mitglied der medizinischen Fakultät OWL. „In so einem Fall zerstört die chronische Entzündung die drei Gehörknöchelchen mit der Folge, dass betroffene Personen auf dem Ohr schwerhörig werden“, erklärt Sudhoff. Im späten Stadium kann die Entzündung außerdem zur Lähmung der Gesichtsmuskulatur, Meningitis und Abszessen im Hirnschädel führen. Entstehen kann ein Cholesteatom, auch bekannt als Knocheneiterung, durch eine Mittelohrentzündung oder dadurch, dass das Trommelfell ins Mittelohr einwuchert.
Für die Diagnose, in der Operation und in der Nachsorge werden in der Regel chirurgische Mikroskope eingesetzt, die lediglich den für Menschen sichtbaren Lichtbereich nutzen. „Sie helfen uns, festzustellen, ob sich ein bakterieller Biofilm gebildet hat“, sagt Sudhoff. Entzündet sich ein Cholesteatom durch Bakterien, wächst es schneller und schädigt die befallenen Knochen stärker. Wie stark sich die bakterielle Besiedlung ausgebreitet hat, ist mit den gängigen Mikroskopen aber oft nicht erkennbar, weil zum Beispiel Einblutungen den Biofilm verdecken.
Die Fachärzte setzen zur Diagnose von Cholesteatomen außer Mikroskopie auch Computertomografie (CT) ein. Damit lässt sich eventuelle Flüssigkeit im Mittelohr aber nicht von einem Cholesteatom unterscheiden. Zur Vorbereitung einer Operation wird ebenfalls Magnetresonanztomografie genutzt. Sie liefert eine höhere Auflösung als die CT. Der Nachteil ist aber, dass sie die Details der Gehörknöchelchen ebenfalls nicht präzise genug darstellen kann.
Von dem neuen SWIR-Mikroskop erwarten die Projektverantwortlichen eine Reihe von Vorteilen. Dabei geht es besonders um die Fähigkeit des Mikroskops, durch Blut hindurch sehen zu können und bakteriell besiedeltes Gewebe, Knochen, Nerven und Weichgewebe unterscheidbar zu machen. „So erkennen Operateure bereits während des Eingriffs, wo im Mittelohr sich noch verbleibende bakterielle Besiedlung befindet“, sagt der Projektkoordinator Hans Kiening von dem Medizintechnik-Unternehmen Munich Surgical Imaging (MSI). „Dadurch können sie infizierte Bereiche vollständig entfernen, die sonst dazu führen könnten, dass sich wieder ein Cholesteatom entwickelt.“ Von MSI stammt ein bereits in der Chirurgie eingesetztes Operationsmikroskop, das hochauflösende Aufnahmen liefert. Das neue Projekt baut auf dieser Entwicklung auf.
Weil das künftige SWIR-Mikroskop im Vergleich zu den gängigen Mikroskopen auch durch Weichgewebe hindurchsehen kann, sollen damit auch optisch verdeckte Stellen untersucht werden. Auf diese Weise lässt sich etwa erkennen, ob auch Knochenmaterial im Innenohr von Bakterien besiedelt oder beschädigt worden ist. Hinzu kommt, dass das Mikroskop die Sicherheit für die Patienten erhöhen soll. Denn wenn Operateure das Ohrinnere präzise erkennen und unterscheiden können, sinkt das Risiko, dass durch den Eingriff empfindliche Strukturen wie der Gesichtsnerv oder das Labyrinth des Innenohrs verletzt werden.
Beteiligt sind neben der Universität Bielefeld und dem Klinikum Bielefeld: der Helmholtz Pioneer Campus am Helmholtz Zentrum München, die Leibniz Universität Hannover, der Kamerasystem-Hersteller PCO AG und der Laser-Hersteller Omicron-Laserage Laserprodukte GmbH.
U. Bielefeld / DE