Thomas Manns „Zeitromane“
Der Blick des berühmten Schriftstellers auf die physikalischen Revolutionen seiner Zeit ist Thema eines Essays in „Physik in unserer Zeit“.
Im Zug trifft der Hochstapler Felix Krull den Museumsdirektor Professor Kuckuck, der ihm in einem grandiosen langen Gespräch die gesamte kosmologisch und evolutionstheoretisch erforschte Entwicklung von Materie, Leben und Erkenntnis erläutert und ihn damit desillusionierend auf den Boden der Tatsachen verweist: Das „raum-zeitliche Sein“ sei nur ein Episode „zwischen Nichts und Nichts“.
Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, der nur „Sinn für die Charaktere des Lebens“ hat, ist nicht nur eine Parodie auf die Entwicklungsromane und literarischen Illusionskünste, sondern dieser letzte Roman von Thomas Mann enthält wohl auch Autobiographisches eines selbstironischen Schriftstellers, der mit aufgeschnapptem Halbwissen Eindruck schinden wollte. Er sei ein „Parvenü der Erkenntnis“, ein „Bildungsbürger auf Abwegen“, der in seinen enzyklopädischen „Bildungsromanen Gelehrsamkeit simuliert“, um nur wenige literaturwissenschaftliche Titel über ihn zu zitieren.
Kaum eine Kritik verzichtet darauf, seinen „Dilettantismus“ bei physikalischen Themen zu erwähnen und ihm zahlreiche inhaltliche Fehler, unsinnige Begriffe oder physikhistorisch falsche Einordnungen nachzuweisen. So etwa wenn bereits Joseph in Ägypten (1936) vor 3000 Jahren Galileis Pendelgesetze weiß, Adrian Leverkühn im Doktor Faustus (1947) falsche Zahlenwerte für die Lichtgeschwindigkeit verwendet oder Hans Castorp im Zauberberg (1924) über „Lichtjahrgeschwindigkeit“ nachdenkt. Hinzu kommt, dass Thomas Mann viel aus Tagespresse und Lexika abgeschrieben und elegant paraphrasiert hat, was er seine „Kunst des höheren Abschreibens“ nannte. Im Gegensatz zu seinem lebhaften Interesse an Medizin hat er sich aber kaum um Naturwissenschaften gekümmert und wohl auch Experten wie seinen Nachbarn Einstein in Princeton nicht um Rat gefragt.
Diese Distanz spiegelt sich auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung wieder, die Mann zwar als einen universalistischen „Weltanschauungsschriftsteller“ ansieht, der die moderne Zeit in poetische Form fasst, die zeitgleich stattfindende physikalische Revolution aber nicht thematisiert. So verwendet das umfangreiche Thomas Mann Handbuch (2015) nur wenige Zeilen auf die naturwissenschaftlichen Bezüge in seinem Werk.
Dabei ist die Moderne nicht nur technologisch, sondern auch epistemisch, sozial und politisch von kaum etwas stärker geprägt worden als von Physik, Chemie und Biologie; es wäre ein Wunder, wenn nicht auch ästhetisch. So reagierten Schriftsteller auf die naturwissenschaftliche „Entzauberung der Welt“ mit dem literarischenVersuch, die Dichotomie zwischen Natur und Geist durch eine humanistische Gesamtschau auf die menschliche Existenz und ihrer nihilistischen Beunruhigung aufzuheben. Dem spürt man aber nicht durch „Quellenjägerei“ und Korrektur laienhafter Fehler nach, sondern mit einem Nachweis der Bedeutung von Physik für Struktur, Figurenkonstellation und Handlungen des Romans.
Denn Physik wirkt sich in Manns Zeitromanen nicht nur explizit in endlos erscheinenden Palavern über Gott und die Welt aus, sondern vielmehr ästhetisch als „implizite Physik“, die Charaktere, ihre Erlebnisse und Reflexionen prägt. So ist etwa naturwissenschaftliche Forschung durch Manns Stil oft erotisch aufgeladen, Ausdruck der erregenden Faszination und des Verlustes einer rationalen Kontrolle zugleich. Und im Zauberberg fragt der Erzähler: „Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich?“ „Ist die Zeit eine Funktion des Raumes?“
Folgerichtig spielt auch der durch Einsteins Popularisierung bekannte Zug eine zentrale Rolle, in dem Hans Castorp während der Fahrt zum Berghof seine seltsame Zeit- und Raumerfahrung schildert. In der anderen Bezugswelt angekommen, mahnt ihn sein Vetter: „Ja, Zeit ... drei Wochen sind wie ein Tag. Man ändert hier seine Begriffe.“ Und in der Tat werden aus drei Wochen sieben Jahre, denn in dieser Zauberbergwelt ist „unsere kleinste Zeiteinheit der Monat“. So schildert Mann die ersten sieben Monate in der ersten und in der zweiten Hälfte die restliche Zeit nach Hans‘ Anpassung an das neue Zeitmaß. Diese Relativität des Verhältnisses von erzählter Zeit und Erzählzeit ist eine kreative Umsetzung physikalischer Erkenntnis in die Romanstruktur. „Ist das nicht sinnig, ebenfalls“? fragte Thomas Mann, als ihm kurz vor seinem Tod die ETH Zürich den Ehrendoktortitel der Naturwissenschaften verlieh.