06.02.2015

Lehren aus Fukushima

Eine Analyse von über 100000 Lebensmittelproben zeigt charakteristische zeitliche Verläufe der Kontamination.

Fukushima: Ungeachtet aller direkten Opfer des Tsunamis am 11. März 2011 und aller unmittelbaren Zerstörung steht dieser Ort weltweit primär für die Havarie am dortigen Kernkraftwerkkomplex. Nur beim Unfall von Tschernobyl gelangte eine noch größere Menge an Radionukliden in die Umwelt. Angesichts dieser Dimension begannen die japanischen Behörden direkt nach dem Unfall damit, in einem beispiellosen Ausmaß landesweit Lebensmittel auf radioaktive Kontaminationen zu untersuchen und gegebenenfalls aus dem Handel zu nehmen.

Über 900000 Proben wurden zwischen März 2011 und August 2014 auf wichtige Radionuklide untersucht, sämtliche Ergebnisse sind online zu finden – allerdings ohne jede Interpretation und Auswertung und meist „versteckt“ in den Tiefen von japanischen Webseiten. „Das kommt mir typisch japanisch vor“, sagt dazu der Strahlenphysiker Georg Steinhauser, der an der Colorado State University in Fort Collins arbeitet: „Japan unternimmt zwar gigantische Anstrengungen mit den Messungen. Da man aber niemanden belasten will und die Regierung nicht infrage stellen darf, wird keinerlei Aussage darüber gemacht, was die Daten eigentlich bedeuten.“ Daher hat Steinhauser gemeinsam mit seinem Doktoranden Stefan Merz an der TU Wien, der den „Datenschatz“ gehoben hat, sowie einem japanischen Kollegen die Daten systematisch analysiert und die Ergebnisse kürzlich veröffentlicht.

In Japan wurden hunderttausende Proben, zum Beispiel von Reis, in Gammaspektrometern untersucht (Quelle: K. Shozugawa)

Angesichts der schieren Datenmenge haben sich Steinhauser und seine Kollegen auf rund 140000 Proben des ersten Jahres beschränkt. Ein Teil davon stammte von Trinkwasser, dessen Belastung mit Iod-131 jedoch sehr schnell abfiel, sodass bereits Ende März die Beschränkungen aufgehoben wurden. Interessanter waren die restlichen Proben von pflanzlichen sowie tierischen Produkten (Gemüse, Früchte, Pilze, Seetang bzw. Fleisch, Eier) und deren Kontamination mit Radiocäsium (Cäsium-134 und -137).

Bei den pflanzlichen Produkten wurden gleich zu Beginn (die Kampagne startete sechs Tage nach dem Unfall) hohe Aktivitäten gemessen, die durch Niederschlag zustande kamen und häufig weit jenseits des damaligen Grenzwerts von 500 Bq/kg lagen – der Rekordwert von 82000 Bq/kg trat in einem Blattgemüse auf. Binnen eines Monats fielen die Höchstwerte um mehr als eine Größenordnung ab, und ab Mitte Juli überschritt keine Probe mehr den Grenzwert. Mit Beginn der Pilzsaison Mitte August stiegen die Werte wieder an – Pilze speichern Cäsium – und Mitte November erneut, als getrocknete Pilze und Tee in den Großhandel kamen. Die Teepflanze ist aus radioökologischer Sicht besonders interessant, weil sie fast ausschließlich über die Blätter Cäsium aufnimmt und es in die jungen Blätter transferiert, die geerntet und weiterverarbeitet werden. Da die Aufnahme über die Wurzeln praktisch keine Rolle spielt, traten bereits 2012 keinerlei Grenzwertüberschreitungen mehr bei Tee auf.

Unmittelbar nach dem Unfall wurden hohe Cäsium-Aktivitäten in Gemüse gemessen (grüne Punkte links), im Herbst folgten zunächst frische und später getrocknete Pilze (dunkel- bzw. hellblaue Punkte) (Quelle: G. Steinhauser)

Ganz anders war der zeitliche Verlauf bei den tierischen Proben: Da Tiere erst nach einigen Monaten relevante Mengen an Cäsium über die Nahrung aufgenommen und in die Muskeln eingebaut hatten, kam es erst im Sommer 2011 zu Überschreitungen der Grenzwerte. Ab September gab es einen zweiten Peak durch Wild; insbesondere Wildschweine ernähren sich von cäsiumreicher Nahrung wie Pilzen und Würmern.

Insgesamt überschritten im ersten Jahr nach dem Unfall japanweit 0,9 Prozent der Proben die Grenzwerte (in der Präfektur Fukushima waren es 3,3 Prozent). Zwischen April und August 2014 waren es nur noch 0,2 bzw. 0,6 Prozent. „Die Zahl der Personen, die aufgrund des Reaktorunglücks von Fukushima mehr als das erlaubte Millisievert pro Jahr mit der Nahrung aufgenommen haben, dürfte sehr gering gewesen sein“, ist Georg Steinhauser überzeugt. Er geht davon aus, dass solche Überschreitungen fast ausschließlich bei Personen vorgekommen sind, die selbst Lebensmittel angebaut oder Pilze gesammelt haben und somit die behördlichen Vorsichtsmaßnahmen umgingen.

Iod-131 und Radiocäsium sind Gammastrahler und lassen sich daher einfach nachweisen. Da dies nicht für den Betastrahler Strontium-90 gilt, haben die japanischen Behörden die Strontiumbelastung sehr konservativ mit zehn Prozent der Cäsiumbelastung abgeschätzt. „Diese Annahme war sehr vernünftig, um in kurzer Zeit möglichst viele Proben untersuchen und die Bevölkerung mit sicheren Lebensmitteln versorgen zu können“, sagt Steinhauser, „für die Zukunft ist sie aber sehr riskant.“ Strontium-90 und Cäsium-137 haben nämlich zwar praktisch identische Halbwertszeiten (rund 29 bzw. 30 Jahre), Cäsium wird aber relativ schnell an Mineralien immobilisiert, während Strontium für Pflanzen verfügbar bleibt. Wie der Fallout der Atomwaffentests gezeigt hat, steigt daher die Belastung durch 90Sr relativ zu 137Cs, sodass in wenigen Jahren Lebensmittel auf den Markt kommen könnten, die unauffällig im Hinblick auf Cäsium sind, aber dennoch den Grenzwert überschreiten. Steinhauser und seine Kollegen appellieren daher an die japanischen Behörden, den Cs-Grenzwert zu gegebener Zeit abzusenken, um diesen Effekt zu berücksichtigen.

Stefan Jorda

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