22.06.2020 • Teilchenphysik

Ein Blick in die nahe und ferne Zukunft

Das Update der European Strategy for Particle Physics zeigt auf, wie sich die Teilchenphysik nach der Ära des Large Hadron Collider in Europa entwickeln soll.

Nach fast zwei Jahren voller Diskussionen und Beratungen liegt nun das Update der Strategie für die europäische Teilchenphysik vor. Während des öffentlichen Teils der Sitzung des CERN Councils präsentierte die Vorsitzende der European Strategy Group, Halina Abramowicz von der Tel Aviv University, den Bericht. Die ursprünglich für den 25. Mai in Budapest angesetzte Veröffentlichung hatte sich aufgrund der Corona-Pandemie verzögert.

Der CERN Council hatte die European Strategy Group im September 2018 eingerichtet, um das Update auf den Weg zu bringen. Die Gruppe setzte sich zuletzt aus 75 Mitgliedern zusammen, darunter Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsstaaten des CERN aber auch führender nationaler Großforschungseinrichtungen wie dem DESY in Deutschland. Sechs Arbeitsgruppen befassten sich mit besonderen Aspekten, beispielsweise den Karriereaussichten des wissenschaftlichen Nachwuchses, dem Technologietransfer und den Auswirkungen auf die Umwelt.

Teilchenkollisionen, hier die künstlerische Darstellung eines Ereignisses am...
Teilchenkollisionen, hier die künstlerische Darstellung eines Ereignisses am Future Circular Collider, erlauben Einblicke in die Physik kleinster Längenskalen. (Quelle: CERN / Polar Media)

Resultat sind zwei schlanke Dokumente, die auf gut 30 Seiten einen Weg skizzieren, um die aufgelisteten wissenschaftlichen Ziele zu erreichen. In der nahen Zukunft liegt der Fokus der europäischen Teilchenphysik auf dem Upgrade des Large Hadron Colliders zum High-Luminosity LHC. Es gelte, das volle Potenzial von LHC und HL-LHC auszuschöpfen, inklusive der Flavourphysik und Erkenntnissen zum Quark-Gluon-Plasma. Gleichzeitig sollen neue experimentelle Techniken für die nachfolgenden Beschleuniger und Detektoren erkundet werden.

Um das klassische Konzept eines Hochenergiebeschleunigers voranzutreiben, setzt das Update die höchste Priorität darauf, Hochtemperatursupraleiter zu finden, die eine neue Generation supraleitender Magnetspulen ermöglichen. Für innovative Konzepte, beispielsweise die Plasma-Wakefield-Beschleunigung oder Energy-Recovery Linacs, soll eine Roadmap erstellt werden. Der entscheidende Punkt des Updates ist die Vorgabe, die technische und finanzielle Machbarkeit eines zukünftigen Hadronen-Colliders mit einer Schwerpunktsenergie von mindestens 100 TeV zu untersuchen, dessen Vorgänger eine „Higgs-Fabrik“ sein soll: Bei der Kollision von Elektronen und Positronen (Leptonen) ließen sich damit zunächst auch elektroschwache Prozesse detailliert untersuchen.

Damit greift die Strategie für die ferne Zukunft – der neue Collider könnte Mitte des Jahrhunderts in Betrieb gehen – ein bewährtes Vorgehen am CERN erneut auf: Auch im Tunnelsystem des Large Hadron Colliders war zuvor mit dem Large Electron-Positron Collider (LEP) ein Beschleuniger für Leptonen untergebracht, der es ermöglichte, die am Super Proton Synchrotron (SPS) entdeckten W- und Z-Bosonen genauer zu untersuchen. Während in Europa also weiterhin Ringe dem Beschleunigen von Teilchen dienen sollen, sieht die europäische Teilchenphysik im International Linear Collider (ILC) einen komplementären Ansatz. Deshalb möchte sie beim Bau der Anlage, der in Japan angestrebt wird, kollaborieren.

Das Luftbild zeigt die Lage des 100 Kilometer langen Tunnels des Future...
Das Luftbild zeigt die Lage des 100 Kilometer langen Tunnels des Future Circular Collider im Vergleich zu den existierenden CERN-Beschleunigeranlagen LHC, SPS und PS. (Quelle: CERN)

Über die wissenschaftlichen und technischen Aspekte hinaus hebt das Update weitere wesentliche Punkte hervor. Dazu gehört es, die Umwelt möglichst wenig zu belasten, indem das Einsparen und Wiederverwenden von Energie in den Fokus rücken soll. Dieser Ansatz zielt auch darauf ab, wirtschaftlich verwertbare Technologien zu entwickeln. Um die weltweite Zusammenarbeit zukünftig einfacher zu gestalten, setzt die Strategie darauf, eine Politik der „Open Science“ zu etablieren: Wissenschaftliche Daten und Ergebnisse sollen noch mehr als bisher frei zugänglich sein.

In der Neutrinophysik bleibt es bei Kollaborationen mit den „Long baseline“-Experimenten in den USA und Japan, um beispielsweise den Aufbau des Deep Underground Neutrino Experiment (DUNE) zu unterstützen. Ein europäisches ähnlich ausgerichtetes Projekt – wie es ESSnuSB oder das Protvino-ORCA-Experiment vorschlagen – hat in diesem Update keinen Platz gefunden. Trotz der breit gefächerten wissenschaftlichen Ambitionen in der europäischen Teilchenphysik gehörte es eben auch dazu, eine enge Auswahl zu treffen.

Die nächste Chance bietet sich in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre: Dann soll ein weiteres Update die Ergebnisse der Machbarkeitsstudien zu einem zukünftigen Hadronen-Collider aufgreifen und die Strategie der europäischen Teilchenphysik erneut überdenken. Bis dahin sind die europäischen Teilchenphysikerinnen und -physiker auf die Zusammenarbeit mit Partnern weltweit und in benachbarten Forschungsfeldern angewiesen, um die angestrebten Ziele zu erreichen.

Kerstin Sonnabend

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