18.07.2022

Der Revolutionär der Wissenschaftsgeschichte

Vor 100 Jahren wurde der Physiker Thomas S. Kuhn geboren, der vor 60 Jahren einen neuen Blick auf die Wissenschaftsgeschichte wagte.

Der Weg von Thomas Samuel Kuhn, der  am 18. Juli 1922 in Cincinnati geboren wurde, führte von einem Physik-Studium an der Harvard-Universität, wo er 1949 beim späteren Physik-Nobelpreisträger in theoretischer Festkörperphysik John H. van Vleck promovierte, zur Wissenschaftsgeschichte - später mit einem ausgeprägten Fokus auf philosophische Aspekte.

Prägend waren für Kuhn die Kurse in Wissenschaftsgeschichte, die er nach seinem Einsatz als Radartechniker im Zweiten Weltkrieg in Großbritannien und Nordfrankreich und noch vor seiner Promotion in Harvard gab. Die Anregung dazu kam von seinem Mentor, dem Chemiker und damaligen Harvard-Präsidenten James Bryant Conant (1893 – 1978), der damit Kuhns akademischer Laufbahn eine neue Richtung gab. Der übernahm 1956 eine Assistenzprofessur für Wissenschaftstheorie und -geschichte in Berkeley, aus der schließlich eine ordentliche Professur für Wissenschaftsgeschichte wurde.

In Berkeley verfasste Thomas Kuhn sein Hauptwerk „The Structure of Scientific Revolutions“ (1962, deutsch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, 1967). Darin rückte er von der Vorstellung ab, dass der Fortschritt der Wissenschaft in einem beständigen Zuwachs an Erkenntnis besteht. Stattdessen werde diese immer wieder von „revolutionären“ Phasen  erfasst, in denen etablierte Grundsätze (Paradigmen) infrage gestellt und durch neue ersetzt wurden.

Beispiele solcher Paradigmenwechsel waren für Kuhn beispielsweise die kopernikanische Wende hin zu einem heliozentrischen Weltbild oder Lavoisiers Theorie der Sauerstoffverbrennung, die der Phlogiston-Vorstellung ein Ende bereitete. Das Ziel seines Buches, so Kuhn, sei „ein Entwurf der ganz anderen Vorstellung von Wissenschaft, wie man sie aus geschichtlich belegten Berichten über die Forschungstätigkeit selbst gewinnen kann“.

Belege für seine Thesen, die über die Jahre viele Kontroversen entfachten, versuchte er auch als Leiter des Projekts „Sources for History of Quantum Physics” (SHQP) zu gewinnen. Das Projekt startete offiziell am 1. Juli 1961 und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Dokumente zur Entstehungsgeschichte der Quantenphysik aus den Jahren 1898 bis 1938 zu sammeln und die wichtigsten Protagonisten der „Quantenrevolution“ persönlich zu befragen.

Die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen von der Humboldt-Universität zu Berlin hat unter dem Titel „Revolutionäre im Interview“ nun erstmals eine ebenso ausführliche wie aufschlussreiche Geschichte des Projekts vorgelegt, die nicht nur seine Entstehung, seinen Verlauf und seine Nachwirkung behandelt, sondern auch das Interview als Forschungsinstrument in den Blick nimmt.

Te Heesen berichtet vom Sammelaufruf, den Thomas Kuhn und sein Mitarbeiter John Heilbron im Februar 1962 an zahlreiche Fachzeitschriften sandten, darunter auch an die Physikalischen Blätter, die damals von Erwin Brüche betreut wurden. Eine kondensierte Form des Aufrufs erschien zeitnah im März 1962, allerdings im Anzeigenteil, sodass er sich nicht in den digitalisierten Jahrgängen findet, die online in der Wiley Online Library frei verfügbar sind.

Thomas Kuhn und seine Mitarbeiter:innen führten zwischen Februar 1962 und Mai 1964 insgesamt 175 Interviews mit 95 Personen, die Anteil an der Entwicklung der Quantenphysik gehabt hatten. Dabei konzentrierten sich die Fragen vor allem auf den Zeitraum von 1913 - dem Jahr, in dem Bohr sein Atommodell veröffentlicht hatte, bis 1938, das wissenschaftlich durch die weitreichende Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn, Fritz Straßmann und Lise Meitner geprägt war.

Im September 1962 war das Projekt am Institut von Niels Bohr in Kopenhagen angesiedelt. Die Gespräche mit Bohr erwiesen sich als sehr ertragreich, konnten aber nicht vollständig durchgeführt werden, da Bohr am 18. November 1962 starb. Die 12 Interviews, die Thomas Kuhn mit Werner Heisenberg im November 1962 und Februar 1963 in München führte, dürften die umfangreichste Befragung des Projekts sein. Das Transkript umfasst rund 300 Seiten.

In Deutschland übernahm der Physiker Friedrich Hund (1896 – 1997), der auch selbst interviewt worden war, ab Juli 1967 eine Nachlese des SHQP und bemühte sich zusammen mit dem Wissenschaftshistoriker Armin Hermann (geb. 1933), in Deutschland weiteres Quellenmaterial zur Geschichte der Quantenphysik zu erschließen.

Thomas Kuhns Hoffnung, aus den Interviews Belegmaterial für seine Thesen in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ zu sammeln, erfüllte sich indes nicht, wie Anke te Heesen in ihrem Buch ausführt. Dennoch stellen die gesammelten Quellenmaterialien und Interviews einen unverzichtbaren Fundus der Physikgeschichte dar. Transkripte der Interviews und ausgewählte Ausschnitte der Tonaufnahmen stehen heute auf der Website des Niels Bohr Archives des American Institute of Physics zur Verfügung. Da die Befragung von Physikerinnen und Physikern fortgesetzt wurde, finden sich dort mittlerweile die Transkripte von rund 1500 Interviews.

Thomas S. Kuhn befasste sich detailliert mit einzelnen Revolutionen in der Wissenschaft, zuletzt mit der Entwicklung der frühen Quantentheorie. Viele seiner Schüler und Mitarbeiter, darunter John Heilbron, leisteten wichtige Beiträge zur Physikgeschichte oder zu Editionsprojekten wie den Collected Papers of Albert Einstein.

Kuhn lehrte von 1964 bis 1979 an der Princeton University und wurde dann Professor für Philosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991 lehrte. Bis zu seinem Tod, er starb 1996 an Krebs, arbeitete er am Buch „The Plurality of Worlds: An Evolutionary Theory of Scientific Discovery“, das er jedoch nicht vollenden konnte. Das unvollendete Manuskript wird im Dezember im Buch „The Last Writings of Thomas S. Kuhn“ bei University of Chicago Press erstmals veröffentlicht.

Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ gehört trotz aller Diskussionen und Einwände, die es seit seinem ersten Erscheinen vor 60 Jahren gegeben hat, immer noch zur wissenschaftsgeschichtlichen Pflichtlektüre. Auch die unter seiner Leitung gesammelten Materialien zur Geschichte der Quantenphysik, die in Kopie in rund 20 Bibliotheken weltweit zur Verfügung stehen, unter anderem in Berlin, München und Konstanz, sind ein Beleg für Kuhns nachhaltigen Einfluss auf die Wissenschaftsgeschichte.

Alexander Pawlak

Ergänzung (21. Juli 2022):
Eingefügt wurde der Hinweis auf das Buch „The Last Writings of Thomas S. Kuhn“.
 

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