02.12.2022

Brechts „Leben des Einstein“

Die Beziehung von Physik und Literatur ist vielschichtig, wie Klaus Mecke anhand von Brechts Werken in der neuen „Physik in unserer Zeit“ darstellt.

Physik und Literatur brauchen einander, da die Welt nicht nur selbstlos erkannt, sondern auch zum Guten gewendet werden will. Brecht entwickelt hierfür ein experimentelles Theater aus dem analytischen Geist der Physik. Als Albert Einstein am 18. April 1955 an inneren Blutungen eines Aortenaneurysmas starb, sah Bertolt Brecht die Notwendigkeit, die gesellschaftlichen Folgen seines Denkens in einem epischen Theater zu objektivieren und skizziert ein „Leben des Einstein“ (1955): „Die große Formel kann nicht zurück genommen werden. Dies ist erst der Anfang. Am Ende weiß er, daß sein Triumph sich in seine Niederlage verwandelt hat, da auch er die große Formel nicht zurücknehmen kann, wenn ihre Tödlichkeit sich erwiesen hat. Da zersprang ihm die Herzader. (Schluß)“

Abb.: Atompilz über Hiroshima am 6. August 1945 nach dem Abwurf der Uranbombe...
Abb.: Atompilz über Hiroshima am 6. August 1945 nach dem Abwurf der Uranbombe „Little Boy“ (Bild: G. R. Caron, EPA / US National Archives)

Brecht  hatte sich schon seit Jahrzehnten für das Leben Einsteins interessiert, sammelte Material, besuchte Vorträge, las „einiges über die Feldtheorie“; aber erst jetzt sah er die Möglichkeit, an das „Leben des Galilei“ anzuknüpfen und die Problematik der Verantwortung des Physikers zu aktualisieren: „Fortschritt in der Erkenntnis der Natur \\ Bei Stillstand in der Erkenntnis der Gesellschaft \\ Wird tödlich“. Brechts eigener Tod am 14. August 1956 vereitelte dieses letzte Werk.

Brecht interessierte sich für die Physik vor allem als den Motor der gesellschaftlichen Dynamik in Zeitenwenden wie zu Beginn der Neuzeit um 1600 und der Moderne 300 Jahre später. Aber wer ist der eigentliche Akteur des Fortschritts: niemand, der einzelne Physiker oder das Theater? Brecht schrieb drei verschiedene Fassungen des „Leben des Galilei“: 1939 im dänischen Exil, 1947 in Kalifornien und die dritte 1956 in Berlin. Die Gründe der Überarbeitungen sind die welt- und physik­geschichtliche Entwicklung, die ihn den Physiker anders sehen ließ.  Zuerst billigt Brecht seinem Galilei noch listiges Verhalten in repressiven Situationen zu, um der „reinen Erkenntnis“ willen weiter forschen und die „Discorsi“ der Welt schenken zu können. Während 1939 auch die geglückte Kernspaltung im Text noch positiv konnotiert wird, verschwinden diese Passagen in der zweiten und dritten Fassung nach den Atom­bomben­explosionen in Hiroshima und Nagasaki. Brecht lässt nun Galilei sich selber anklagen, als Wissenschaftler versagt zu haben, da „das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühselig­keit der menschlichen Existenz zu erleichtern“. In der dritten Fassung erklärt er die Physiker gar zu einem „Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können“.

Doch mit der Selbstanklage des Galilei blieb Brecht nicht stehen, denn am Leben Einsteins zeigt sich eine weitere Facette des Problems: selbst wenn ein Physiker als „Vorkämpfer des Friedens“ nicht nachlässt, auf die Gefahren hinzuweisen, passiert das Schreckliche.  In seiner Rede „Über experimentelles Theater“ (1939) bezieht Brecht sich an zentraler Stelle auf ihn: „Einstein begründet das Faktum, daß die Beherrschung der Natur, in der wir es so weit gebracht haben, so wenig zu einem glücklichen Leben der Menschen beiträgt, damit, daß [...] die Menschen so wenig über sich selber wissen. […] Es ist klar, wieviel gewonnen wäre, wenn das Theater imstande wäre, ein praktikables Weltbild zu geben. Eine Kunst, die das könnte, würde in die gesellschaftliche Entwicklung tief eingreifen können.“ So wandelt Brecht die „Thesen über Feuerbach“ (1845) von Karl Marx ab: die Physiker haben die Welt nur erkannt, „es kömmt drauf an sie zu verändern“. Das ist die revolutionäre Aufgabe des epischen Theaters im wissen­schaftlichen Zeitalter.

Um dies zu erreichen, muss es genauso analytisch vorgehen wie die Physik bei der Untersuchung der Natur, mit induktiven Methoden auf der Bühne und einem „Darstellungsstil der kritischen Distanzierung“ anstelle eines aristotelischen Stils der mimetischen Emotionalisierung. Zentrale Methode ist bei ihm daher die Verfremdung – zum Beispiel „Einstein“ statt „Galilei“ im Titel –, die Verwunderung als ersten Schritt des Denkens anregt und den Zuschauer dazu bewegt, das Geschehen objektiv zu reflektieren.

Ziel dieses neuen Theaters müsste sein, das fortzusetzen, wo die Physik scheitert: die Erkenntnis der Gesellschaft über sich selbst zu fördern, um mit der Erkenntnis der Natur schritt­halten zu können. Wer dies erreicht, sei ein „Einstein der neuen Bühnenform“.

Klaus Mecke, Uni Erlangen-Nürnberg

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